Am frühen Morgen sammelten sich die Wolken über Samarkand und verdunkelten die aufgehende Sonne. Es war leise auf den Straßen. Der Wind sauste durch die Stadt und brachte die Blätter der Bäume zum Rascheln. In der Ferne grollte bereits der Donner. Das Fenster war offen. Mütterchen lag im Bett der Geburtsklinik Nr. 2 und hörte die auf die Fensterbank herabfallenden Regentropfen. Ein plötzlicher Schmerz im Unterleib brachte sie zum Schreien. Das Gewitter wurde stärker. Die einzelnen Regentropfen verwandelten sich in ein ununterbrochenes Rauschen. Die Tür des Krankenhauszimmers wurde aufgerissen und der dadurch entstandene Luftzug ließ das wackelnde Fenster zuknallen. Die Krankenschwestern waren nun da und die Geburt ging los. Das war der 20. Juni, ein Samstag. An diesem Tag erblickte ich, Александр (lat: Aleksandr), der Sohn von Dima und von Mütterchen, zum ersten Mal das Licht der Welt.
Die Großeltern mütterlicherseits, Oma Lina und Opa Yura, aber auch ihr Sohn Sascha, mein Onkel, sind aus Angst vor Taliban nach Russland geflohen und bauten dort im kleinen Dorf Kharkovskiy ein Haus. Da war ich ungefähr sechs Jahre alt. Meine Eltern und Großeltern väterlicherseits blieben mit mir in Usbekistan.
Ein Jahr zuvor hatte meine Mutter das Studium abgeschlossen und machte einen Monat bei einem Austauschprogramm mit. Sie reiste nach Deutschland, Frankfurt.
Meine Eltern und ich lebten in einem eigenen Haus. Direkt gegenüber lebten meine Großeltern – Gogi und meine Lieblingsoma Galja, die uns mit dem allerleckersten russischen und usbekischen Essen bekochte – mit Pelméni, Mantí, Plov und insbesondere mit den nach ihrem Geheimrezept angefertigten Samsá. Selbst ein gewöhnliches Spiegelei schmeckte bei Galja wie ein Festessen.
Aber Galja war nicht nur eine gute Köchin, sondern auch eine lebensfrohe Großmutter. Sie alberte gern mit mir herum und lachte bei jeder Gelegenheit. Sie hatte auf der einen Hälfte des Gesichts ein Feuermal, kurze blonde Locken und ein Lachen, das so laut war, dass alle um sie herum taub wurden.
Mein Großvater Gogi war ein Opa mit einem dicken Bauch, den er vor allem dem leidenschaftlichen Bierkonsum verdankte. Als ich kleiner war, konnte ich seinen richtigen Namen, Georgi, nie richtig aussprechen, weshalb ich ihn kurzerhand Gogi taufte. Von nun an, nannten ihn alle Gogi – sogar die Nachbarn.
Wenn ich von meinen Eltern Ärger bekam, weil ich zum Beispiel mit dreckigen Schuhen im Haus herumlief, dann haute ich schnell ins Nachbarhaus ab, um dem Gebrüll meiner Mutter oder Dimas Ohrenlangziehen zu entkommen. Sobald ich durch die Haustür meiner Großeltern trat, empfingen mich verschiedenste Essensgerüche, gemischt mit dem leicht wahrnehmbaren Geruch der Zigaretten, die Gogi in der Küche rauchte. Videoaufnahmen von mir mit meiner Familie - in unserem Haus. Der Kameramann ist der Nachbar von uns. Tanzen mochte ich wohl sehr gern. Ich bin drei Jahre alt. (23. September 1995).
Kurz vor dem Silvester 1995 wurde ich wieder auf einer Videokassette festgehalten: Aufnahmen vor dem Neujahr bei uns zu Hause. (24. Dezember 1995).
Im Kindergarten - typisch für Usbekistan - wird zum Neujahr ein Schauspiel mit den Kindern veranstaltet. Am Ende bekommen die Kindergartenkinder von Ded Moros (Weihnachtsmann) und Snegurotschka Geschenke. Ich war ein Häschen bei diesem Schauspiel. Na, findest du mich? Neujahrsveranstaltung im Kindergarten. Dima ist der Kameramann. (28. Dezember 1995).
Bei Galja und Gogi habe ich mit Dima und Mama das Silvester 1995 gefeiert. Dazu wurde ein Weihnachtsmann und ein Akkordeon-Spieler eingeladen. Ich hatte wohl nicht wirklich Lust irgendwelche Gedichte aufzusagen, um Geschenke zu bekommen: Bei Galja und Gogi zu Hause am Silvester. Der Weihnachtsmann ist zu Besuch. Der Kameramann ist der Nachbar von uns. (31. Dezember 1995). Neujahrsveranstaltung im Kindergarten. Ich bin der im blau-roten Kostüm. Ich fand es nervig, dass der Zylinderhut abrutschte. Dima ist der Kameramann. (26. Dezember 1996).
Kurz vor meinem vierten Geburtstag bekam meine Mama, genau zu Nouruz, ein zweites Kind. Es war ein Mädchen. Während meine Mutter voll und ganz mit meiner kleinen Schwester beschäftigt war, arbeitete Dima beim Zoll und ich spielte Battletoads auf meiner Konsole, Dendy, die ich zu meinem fünften Geburtstag bekam. Wenn ich nicht gerade mit meiner Konsole beschäftigt war, spielte ich mit dem einzigen Nachbarskind Ruslan, der ein paar Jahre älter war als ich, auf unserem gemeinsamen Hof.
Ich konnte nur Russisch sprechen. Er beherrschte dagegen sowohl Russisch als auch Usbekisch. Das war gut, denn so konnte ich mit ihm kommunizieren. Wir schaukelten gerne auf einer von Gogi gebauten Schaukel direkt vor dem Küchenfenster, durch das ich meine Mama, mit Schwester auf der Hüfte und einem Kochlöffel in der Hand, beobachten und ihr Tricks zeigen konnte. Wenn Dima seine Musikanlage im Wohnzimmer laut anmachte, rannten wir schnell ins Haus und tanzten herum.
Bei uns zu Hause mit meiner kleinen Schwester. Ich bin fünf Jahre alt. (5. August 1997).
Im Sommer fuhren wir manchmal zu Gogis Datsche - entlang riesiger blauer Berge, die sich in weiter Ferne über die ganze Landschaft erstreckten. In der Datsche planschte ich in einem Schwimmbecken, kletterte auf die Kirschbäume und naschte von den am Haus wachsenden Weintrauben.
An einem dieser heißen Tage, die nur im Schatten auszuhalten waren, entspannte ich mich in Gogis Auto. Auf dem schattigen Fahrersitz aß ich Weintrauben aus einer großen Schale, die mir Gogi in die Hände gedrückt hatte. Währenddessen sang mir Galja von der Rückbank aus etwas vor.
»Galja, ich fahr dich mal!«, beschloss ich nach einer Weile und drehte den Zündschlüssel.
Galja schrie auf, als das Auto in einer etwa einen halben Meter entfernten Grube landete und zum Stillstand kam. Ich warf einen kurzen Blick um mich und sah, wie all die Weintrauben im Auto verstreut waren. Mit Galja stieg ich aus dem Wagen aus. Gogi und Dima hatten den Schrei gehört und eilten zu uns herbei. Gemeinsam mit meinem Vater gelang es Gogi, das Auto aus der Grube zu manövrieren. Für ein derartiges Verhalten hätte mir mein Vater wortwörtlich die Ohren langgezogen. Glücklicherweise hatte ich das Glück, dass Gogi und Galja anwesend waren, da er sich in ihrer Gegenwart anders verhielt. Dank Galja nahmen wir den Vorfall mit Humor.
Einmal bekam ich von Ruslan einen bunten Ball zum Spielen, doch ich verkaufte ihn an eine Fußgängerin, die ein weinendes Kind bei sich hatte. Als Ruslan das herausfand, erzählte er meinen Eltern davon, die ihm dann einen neuen Ball kauften. Später sah ich meinen Kunden im Kindergarten mit dem Ball spielen.
Ich empfand eine starke Abneigung gegen den Kindergarten. Das Mittagessen ließ sich nicht auswählen, und meistens waren es irgendwelche Suppen mit Ebly, bei deren Anblick mir bereits übel wurde. Wir wurden gezwungen, mittags zu schlafen, was ich ebenfalls verabscheute. Wie sollte man denn bitteschön schlafen können, wenn man zuvor die ganze Zeit voller Energie auf dem Spielplatz getobt hatte?
An einem Tag hatte ich beim Spielen plötzlich dringend das Bedürfnis zu pinkeln. In Eile rannte ich zur Toilette im Gebäude. Überraschenderweise folgte mir ein Kind, mit dem ich zuvor gemeinsam auf der Wippe geschaukelt hatte, sogar bis in die Toilettenkabine.
Ich holte meinen Lümmel heraus und begann zu pinkeln. Er ahmte mich sofort nach und lachte.
»Probier mal«, sagte ich zum Jungen und richtete meinen Lümmel in seine Richtung.
»Okay«, antwortete er, kniete sich nieder und gab meinem Lümmel einen Kuss.
»Das kitzelt«, kicherte ich und zog schnell meine Hose hoch.
Dann rannten wir wieder raus, um weiterzuspielen.
Bei uns in der Gegend gab es manchmal Erdbeben, die das ganze Haus erzittern ließen. Es war normal in Usbekistan und trotzdem verursachte es immer wieder ein bedrückendes Gefühl in mir, wenn der Boden unter meinen Füßen wackelte und die Tassen und der Lampenschirm laut dröhnten. Manchmal fiel ein Glas im Schrank um, rollte herab auf den Boden und zerbrach. Dann rannte ich immer zu Mama und klammerte mich an sie.
Als ich mit Galja und Gogi bei einer Familie zu Gast war, die ich nicht kannte, wollte mir eine junge Frau etwas zeigen, als sie feststellte, dass ich mich langweilte.
»Komm mit! Ich zeige dir den Baskerville«, sagte sie zu mir und führte mich durch ein riesiges Tor. Ungefähr hundert Meter von uns entfernten stand ein recht großer Hund. Auf den ersten Blick dachte ich, dass er in einem abgeschlossenen Käfig wäre, da ich vor ihm Gitterstangen zu sehen glaubte. Doch ich hatte mich geirrt, denn Baskerville rannte ungebremst auf mich zu, sprang mich an und warf mich zu Boden. Als ich meinen Kopf berührte, blieb Blut an meinen Händen kleben. Noch während ich verängstigt meine dunkelrot verfärbten Fingerspitzen anstarrte, nahm mich jemand von hinten in die Arme, trug mich zu einem Wasserhahn und spülte dort das Blut vom Kopf ab. Anschließend wurde ich zum Arzt gefahren, der mir eine lange Spritze in den Bauch verpasste. Die Kralle von Baskerville hinterließ eine kleine Narbe am vorderen Teil meines Kopfes. Seitdem hatte ich Angst vor großen Hunden, die mich bis ins Erwachsensein verfolgte.
Als sich mein sechster Geburtstag näherte, wollten meine Eltern ihren Traum verwirklichen und nach Neuseeland auswandern. Doch als sich dazu die Möglichkeit bot, entschieden sie sich für einen anderen Weg.