Nach dem ersten Scheitern am Gymnasium schreibe ich Gedichte und erstelle meinen ersten YouTube-Kanal und eine Website. Ich versuche die Oberstufe nochmal. Es klappt. In der zwölften Klasse bekomme ich einen Physiklehrer, der mich für mein Kein-Lieblingsfach "Physik" plötzlich begeistert. Ich erstelle einen erfolgreichen YouTube-Kanal namens "Universaldenker" mit der dazugehörigen Website, wo ich schon bald tausenden Schülern und Studenten in Physik helfe.
Jahr 2011. Ich war nun von der Schule abgemeldet und konnte mich das restliche halbe Jahr lang der Unternehmensgründung widmen. Ich fing an, einen Businessplan zu erstellen, bis ich an dem Punkt angekommen war, an dem mir klar wurde, dass das Gründen ganz schön bürokratisch, zu teuer und zu kompliziert für mich war. Mit meinen Programmierkenntnissen kam ich auch kaum voran, weil ich mich schwer auf das Erlernen der Programmiersprache konzentrieren konnte. Ständig lenkte ich mich mit Computerspielen, Facebook und MyVideo ab.
All die Hürden und insbesondere die schwer verständliche Rechtssprache, veranlassten mich dazu, lieber den einfacheren Weg einzuschlagen: Die Suche nach einem Ausbildungsplatz zum Fachinformatiker. Ich schrieb und schickte viele Bewerbungen ab. Einige Unternehmen antworteten überhaupt nicht, andere sagten mit einer anscheinend automatisch generierten Nachricht ab. Bei einem Unternehmen musste ich einen Eignungstest absolvieren, bei dem ich unter Zeitdruck irgendwelche Kästchen richtig zusammenfügen oder Zahlenfolgen fortsetzen musste und so einen Kram. Anscheinend schnitt ich schlecht ab, sonst hätten sie sich wieder bei mir gemeldet.
Ich spiele für die Kamera als wäre ich cool. Die Weinflasche auf dem Tisch dient auch nur dem Foto (Januar 2011).
Bei einem großen Unternehmen in Hannover hatte ich Glück – ich musste jedoch erstmal ein dreitägiges Praktikum absolvieren. Meine Aufgabe bestand darin, eine Testwebsite mithilfe von HTML und CSS zu gestalten und ich war sicher, dass ich diese Aufgabe gut gemeistert hatte. Ich freute mich schon darauf, dort aufgenommen zu werden, doch am letzten Probearbeitstag wurde ich von einem der Mitarbeiter befragt. »Warum sollten wir dich nehmen?«
Diese unerwartete Frage brachte mich in Verlegenheit, da ich nicht darauf vorbereitet war. Ich antwortete irgendeinen aus dem Ärmel geschüttelten Mist. Der Mitarbeiter notierte irgendetwas auf seinem Zettel. Am nächsten Tag bekam ich eine Absage.
Ich war enttäuscht von mir selbst und verzweifelt. Bei keinem einzigen Unternehmen war ich erfolgreich. Ich kriegte einfach gar nichts auf die Reihe.
Den Rest des Schuljahres hatte ich praktisch nichts Sinnvolles getan: Hauptsächlich zockte ich Call of Duty oder Counter Strike. Wenn ich zu viele Spiele verlor, schaltete ich den Rechner ausnahmsweise aus und dachte über philosophische Fragen nach. Was ist der Tod? Was ist Liebe? Gibt es einen Gott?
Für einige Zeit ergriff mich auch die Poesie und veranlasste mich, Wörter aneinanderzureimen. Mein allererstes Gedicht auf Deutsch nannte ich »Träumen von Glückseligkeit« und es ging so:
Stunden saß ich da vor mich hin,
Schaute verträumt durch das Fenster; aber auch dahin,
Wo die Gedanken in die Unendlichkeit schwinden;
Zu den glühenden Sternen, sommerlichen Winden.
Dahin, wo es keine Sorgen mehr gab,
Wo die Wonne meine Seele umgab,
Wo die geliebte Familie lachte,
Wo die Liebe neue Erkenntnisse brachte,
Dahin, wo ich die Hand auf mein Herz legte;
Und mit stolzem Gefühl diese Glückseligkeit pflegte.
Philosophieren und Gedichte schreiben hatten eine beruhigende Wirkung auf mich. Sie lenkten mich von meinen Versagensängsten ab. Also poesierte ich weiter. An einem regnerischen Tag ging ich auf den Balkon hinaus, um mich von der grauen Atmosphäre inspirieren zu lassen. Unter dem Schirm sitzend schaute ich melancholisch auf das große Feld vor mir und lauschte dem Rauschen des Regens. In der einen Hand hielt ich einen Bleistift, in der anderen ein Heftchen. Und so entstanden die Verse meines zweiten Gedichts über die Vergänglichkeit des Lebens:
Viel Glück gehabt, um auf die Welt zu kommen;
auf der Wiese gelegen und von der Sonne bestrahlt;
bei den Eltern wohlgenährt und moralisch erzogen,
bummelst durch das Sammelsurium im ruhigen Wald.
Unbewusstheit hat deinen Leib und Geist ergriffen.
Und die unberechenbare Wildnis die Übermacht erreicht.
Ein hungriger Wolf schleicht und hat dich auf dem Gewissen,
während du verblutest und ein anderer dich zerfleischt.
Nun wird dir plötzlich dein sterbendes Leben bewusst
– doch viel zu spät. Du lässt dein Fleisch zerreißen.
Nur die trotzige Hoffnung bleibt eine Weile robust
in das verheißene Paradies der Ewigkeit zu verreisen.
Dann wagte ich mich an eine Ballade, die einige Elemente aus dem zweiten Gothic-Teil enthielt: den bösen Statthalter, die Taverne »Zur Toten Harpyie« und die Wachen von Onars Hof. Das Ganze vermischte ich in der Fantasie mit Liebe und Tragödie. Die Ballade nannte ich »Der Auftragsmörder«:
Nach langem Ruhen, eines Tages,
Bekommt ein Mörder hohen Ranges
Einen Auftrag – vom Statthalter persönlich.
Ungewiss ist der Frevel und ungewöhnlich.
»Hör' mir zu, du unbedeutendes Gesindel
und Hintergeh‘ mich nicht, ich dulde keinen Schwindel!
Mein Vermögen hat die Hure sich unter die Nägel gerissen.
Finde und töte sie; kein Geschöpf wird sie je vermissen!«
»Jawohl, mein Staatsmann, unverzüglich wird sie erledigt;
Ohne Skrupel und mit Freude wird sie geschädigt.
So weit, so gut. Eine nichtige Frage bleibt jedoch offen:
Darf man von einem gnädigen Herrn eine Großzügigkeit erhoffen?«
»Gewiss! Eine Folter wird deinem unreinen Leibe gewährt,
Bis dein Verstand erwacht und Genügsamkeit erfährt.
Zisch ab! Verschwinde! Vollende deine Aufgabe.
Aber tue sie mit Bedacht. Und mit großer Hingabe.«
Und nun streift der enttäuschte Mann hin und her,
Überquert das Land und kommt seinem Ziel immer näher und näher.
Ein abgelegenes Gehöft ist seine letzte Vermutung;
Wachen behüten es; für den Mörder – eine Zumutung.
»Was verbirgt man hier, dass ihr's so auffallend bewacht?
Lagern hier etwa kostbare Schätze? So mein Verdacht.«
»Diebesgut liegt hier sicher verborgen, kühner Mann!
Aufgeklärten wird Erkenntnis verdorben, und nun bist du dran!«
Vor lauter Bange flieht der Mann in die Ferne,
Läuft hinein, in eine nächstgelegene Taverne.
Stille entfaltet sich, sie ist leer und verlassen.
Nein! Eine Frau geht leis' auf ihn zu und spricht gelassen.
»Beeil‘ dich. Versteck' dich hinten im Zimmer.
Blick‘ mich nicht so an; deine Lage wird schlimmer!
Schau hin! Die Wachen schleichen und sind auf der Suche!
Du Verrückter! Wende deinen Blick ab. Bitte! Versuche!«
»Wie soll ich mich deinem reizvollen Antlitz entziehen?
Deine Schönheit hat mir die Fittiche eines Cherubs verliehen.
Nimm' meine Hand und lass uns gemeinsam abheben;
Durch die prächtigen Wolken fliegen und die Sterne erleben!«
Ach du lieber Gott! Stöhnend fällt sie ihm um den Hals,
Während er sie erbittert festhält, angesichts seines Schicksals;
Sieht den Statthalter, der mit 'ner Klinge hinter dem Weib steht;
Und wartet machtlos darauf, wie die Liebe seines Lebens für immer vergeht.
Das Philosophieren über Liebe weckte Eros in mir. Außerdem wollte ich endlich erfahren, wie es ist, richtigen Sex zu haben und nicht nur Pornos zu gucken. Einen Freundeskreis, über den ich Mädchen kennenlernen könnte, hatte ich nicht. Es war schon eine Seltenheit, dass ich mich überhaupt unter Leute begab. Die einzige realistische Möglichkeit war also das Internet. Ich meldete mich auf unzähligen Kennenlernportalen an, in der Hoffnung, jemanden zu finden. Die meisten antworteten nie. Die anderen hatten kein Interesse. Nur die wenigsten ließen sich auf mich ein.
In einem Chat schrieb ich beispielsweise mit einer Julia aus Hamburg, die laut ihrer Größenangabe einen Kopf größer war als ich. Sie fand das nicht schlimm. Sie drückte sich jedoch etwas seltsam aus, was mich stutzig machte. Meine Vermutung bestätigte sich, als sie mir dann ihre Nummer gab und wir über WhatsApp weiterschrieben. Sie verriet mir, dass sie unter Schizophrenie litt. Dann schlug sie mir vor, uns zu treffen, da sie gerade nicht in der Psychiatrie war. Ich hatte nichts gegen ihre Krankheit und stimmte einem Treffen zu, doch eines Abends, kurz vor dem Schlafengehen, bekam ich eine Sprachnachricht von ihr. Als ich sie abspielte, bekam ich überall Gänsehaut.
»Alexander, ich habe Angst. Hier ist überall Blut. Meine Füße und Hände sind voller Blut. Ich habe solche Angst«, sagte sie mit weinerlicher Stimme. In dem Moment bekam ich selbst Schiss. Ich fragte sie, ob es echtes Blut sei. Erst am nächsten Morgen antwortete sie mir, dass es nur eine ihrer Halluzinationen gewesen war. Seit diesem Tag dünnte unser Kontakt aus, bis wir gar nicht mehr schrieben. Getroffen hatten wir uns nie.
Ich suchte weiter. Es waren stets einmalige Treffen ohne jegliche Intimität: Becky, das Mädchen mit dem 7er BMW. Sie saß zumindest auf meinem Schoß. Lou, das Mädchen mit dem Nasenpiercing und den schönen lockigen Haaren, die mit mir »Left for Dead« bei mir zu Hause spielte. Sie war eher am Computerspiel als an mir interessiert. Zum körperlichen Kontakt kam es also nicht. Mit Samantha und vor allem mit Anna schrieb ich nur über unsere gemeinsamen Sexfantasien. Das war sehr erregend, aber leider nicht real.
Ich dachte mir verschiedenste Sprüche aus, mit denen ich die Mädels anschrieb. Eine Jennifer S. aus Hannover antwortete mir zurück. Auf ihren Fotos war sie dunkel angezogen. Deshalb dachte ich zuerst, sie wäre vielleicht in der Schwarzen Szene oder etwas Ähnlichem. Nachdem wir uns einige Tage intensiv über den Chat ausgetauscht hatten, verabredeten wir uns in Hildesheim.
Sie saß bereits auf einer Bank und las ein Buch, als ich an unserem Treffpunkt am Bahnhof ankam. Wir spazierten durch Hildesheim und lernten uns weiter kennen. Erstaunlicherweise konnte ich mit ihr gut reden. Und ich fühlte mich neben ihr wohl. Sie fand mich offenbar auch ganz nett, denn sie lud mich zu einem zweiten Treffen zum Kuchenbacken ein.
An dem Tag trafen wir uns in Hannover am Bahnhof und gingen dann ein paar Kilometer zu Fuß zu ihr. Sie wohnte alleine in ihrer Wohnung, zusammen mit ihren zwei Hamstern. Während sie den Kuchen backte, schaute ich im Wohnzimmer fern. Als sie fertig war, aßen wir den Schokokuchen und redeten über eine Tierdokumentation, die gerade im Fernsehen lief. Nach einiger Zeit ging sie in die Dusche und ließ mich die Kopulation zweier Löwen allein weiterschauen. Als sie zurück ins Wohnzimmer kam, trug sie ein T-Shirt und eine Leggings. Sie setzte sich aufs Sofa, ich saß im Sessel und wir redeten über alles Mögliche, über schwarze Löcher, weil ich letztens eine Doku darüber gesehen hatte und es faszinierend fand, über Freundschaften, über uns. Es vergingen einige Stunden und es wurde dunkel draußen.
Als ich wieder wegfahren wollte, meinte sie, ich könnte bei ihr übernachten, weil es ja schon dunkel war. Ich freute mich natürlich sehr und bejahte dies sofort. Dann führten wir unsere Gespräche weiter fort, bis wir irgendwie auf das Thema Sex kamen. Während sie mir von ihren Sexgeschichten erzählte, versuchte ich, Andeutungen zu machen, dass ich noch unerfahren war, aber dies gern ändern wollte. Sie fand es nicht schlimm.
Als es ganz spät wurde, putzten wir kurz die Zähne. Ich hatte zur Sicherheit meine Zahnbürste mitgenommen, weil ich darauf gehofft hatte, dass ich bei Jennifer bleiben durfte. Anschließend gingen wir ins Schlafzimmer. Auf der anderen Seite des Bettes, mit dem Rücken zu mir gewandt, zog sie ihre Leggings aus. Das lange T-Shirt verdeckte dabei ihr schwarzes Höschen, auf das ich nur einen kurzen Blick erhaschen konnte. Während sie sich ins Bett legte, zog ich ebenfalls schnell meine Jeans, Socken und dann das T-Shirt aus. Nur in Boxershorts löschte ich das Licht und kroch unter die Bettdecke. Jennifer lag, bis zum Kopf bedeckt, mit dem Rücken zu mir. Ich lag zwar mit dem Gesicht zu ihr gewandt, aber möglichst weit von ihr entfernt, weil es für mich so ungewohnt war, neben einer echten Frau zu liegen. Die Bettdecke war am Anfang noch kalt, sodass ich leicht zitterte. Das bemerkte sie anscheinend und sagte zu mir, dass ich näher zu ihr kommen durfte. Voller Dopamin rückte ich an sie heran, aber nicht so nah, dass wir uns berührten. Einige Minuten später gewöhnte ich mich an die Situation und legte langsam meine Hand an ihre warme Hüfte. Die Position meines Arms war nach einigen Minuten etwas anstrengend, weil dieser in der Lücke zwischen mir und Jennifer durchhing. Vorsichtig traute ich mich noch näher an sie heran. Mein Bauch berührte jetzt bei jedem Einatmen leicht ihren Rücken. Ich war wie auf Drogenentzug und Jennifer, die meine Droge war, lag genau vor mir. Sie nahm meine Hand und bewegte sie unter das T-Shirt zu ihrer nackten Brust. Ich rückte noch näher an sie heran, sodass jetzt auch mein steifer Penis durch die Unterhose ihren Po berührte. Langsam streichelte sie über meine Hüfte, führte ihre Hand zu meiner Unterhose und öffnete den Knopf.
Jennifer war erfahren und wusste, wie sie mein erstes Mal zum besten ersten Mal machte, das ich mir wünschen konnte. Ich war unersättlich. Ich konnte nicht aufhören. Wir hatten bis zum Sonnenaufgang Sex. Dann schliefen wir ein.
Als ich aufwachte, lag Jennifer auf meiner Brust und ihre Hand umklammerte meinen immer noch steifen Pennis.
»Du musst jetzt gehen«, flüsterte sie mir ins Ohr. Nur ungern wollte ich diese Ekstase verlassen. Wir schliefen noch ein letztes Mal miteinander, bevor ich wieder nach Hause fuhr.
2011. Ich brach die elfte Klasse ab, gründete kein eigenes Unternehmen und fand keine Ausbildung. Ich fühlte mich wie ein Versager. Das Aufhören mit zeitraubenden Computerspielen war schwierig, da sie einfach zu viel Spaß machten und mich von meinen Zukunftsängsten ablenkten. Die virtuelle Welt war der einzige Ort, an dem ich Erfolge erzielte und Fortschritte machte. Dennoch hatte ich das Verlangen, etwas Sinnvolles zu tun. Also erstellte ich meine erste Website namens Darksoft mit einem kostenlosen russischen Webanbieter, den mir Max empfohlen hatte, da sein Gaming-Clan diesen ebenfalls nutzte.
Das Content Management System hieß UCOZ und war recht einfach zu bedienen. Ich machte mich mit dem System vertraut, fing an, mir HTML, CSS und JavaScript beizubringen, um mein eigenes Design für die Website zu erstellen. Jede neue Kenntnis versuchte ich sofort umzusetzen, weshalb das Websitedesign einem ständigen Wandel unterlag. Mal war es dunkel, mal hell, mal bunt, mal eckig, mal rund. Die Website füllte sich mit meinen Tagebucheinträgen, Gedanken und erdachten Theorien aus verschiedenen Bereichen, sei es Fachinformatik, Philosophie, Psychologie oder Lyrik. Damit all meine Inhalte bei Google gefunden werden, brachte ich mir mit der Zeit Suchmaschinenoptimierung bei.
Natürlich musste ich weiter nach einer Ausbildung suchen. Meine Mutter hätte es mir niemals erlaubt, nichts für meine Zukunft zu tun. Bis zum Beginn des neuen Schuljahres konnte ich mich also nicht die komplette Zeit meinem neuen Hobby widmen, sondern musste weiter nach einer Ausbildung suchen. Da ich dies bis zum Beginn des neuen Schuljahres nicht schaffte, musste ich schließlich doch weiter die Schule besuchen. Ich suchte nach einer, die etwas mit Informatik oder generell mit Computern anbot. Die nächstbeste Wahl war ein technisches Gymnasium in Hildesheim, die Werner-von-Siemens-Schule.
Sie war eine halbe Stunde Busfahrt von zu Hause entfernt. Vom Bahnhof aus musste ich jedoch noch ein Stückchen zu Fuß gehen, was ich aber gar nicht so schlimm fand, weil mich die morgendlichen frischen Spaziergänge zur Schule von der Müdigkeit befreiten – zumindest solange, bis ich die Schule betrat.
Erstaunlicherweise traf ich in der Schulpause meinen Freund Alexey, der dort nach seiner Ausbildung ein Jahr für seine Fachhochschulreife durchziehen musste. Dieses Schuljahr verbrachte ich die großen Pausen manchmal mit ihm – aber auch mit zwei Mädchen, welche in dieser Schule eine Rarität waren. Das türkische Mädchen fühlte sich von den Jungs auf der Schule gemobbt, weshalb sie nach einem Jahr die Schule verließ. Das andere Mädchen, Clarissa, hatte blondes Haar und trug eine zu ihr passende, eckige Brille. Sie ging auch in die elfte Klasse und war eher unauffällig – nichts an ihr hätte den Jungs auf der Schule auf den ersten Blick den Kopf verdreht – doch sie war nett. In den Pausen verbrachten wir die meiste Zeit zusammen.
Clarissa war einige Male bei mir zu Hause, weil sie Hilfe bei den Hausaufgaben im Fach Informationsverarbeitung brauchte und ich wegen meinem Hobby darin einigermaßen gut war. Zufälligerweise entdeckte sie beim Eingeben des Buchstabens P in der Google-Suche meinen Suchverlauf, in dem auch pornografische Suchbegriffe zum Vorschein kamen. Während mich peinliches Unwohlsein ergriff, klickte sie ohne mit der Wimper zu zucken einfach einen Porno an. Eine Frau kniete vor einem Mann, während der Mann ihr seinen Penis oral hineinschob. Die Frau gab Würgeräusche von sich. Wir schauten uns nur kurz an und fingen an zu lachen. Wir hatten vergessen, die Lautsprecher leiser zu stellen, weil dieses komische Würggeräusch gar nicht nach einem Porno klang. Als meine Mutter in mein Zimmer hereinplatzte, schloss ich schnell das Browserfenster.
»Ok genug davon. Lass uns mit EDV weitermachen«, sagte ich und wir widmeten uns wieder dem eigentlichen Thema zu.
Am nächsten Tag saß ich mit Clarissa mal wieder in der Pausenhalle. Doch dieses Mal war es anders zwischen uns. Irgendwie kamen wir auf das Thema Toilette. Kurz, bevor die große Pause vorbei war, schauten wir uns kurz gegenseitig an.
»Sag mal Sascha, wollen wir zusammen auf die Toilette?«, sagte Clarissa mit einem sexuell angehauchten Unterton zu mir, während alle Schüler bereits von den Bänken aufstanden und in ihre Klassen gingen. Ich schaute sie weiter an, während mein Gehirn das Gesagte erstmal verarbeiten musste. So langsam leerten sich die Gänge.
»Klar, warum nicht? Hauptsache wir werden nicht von einem Lehrer erwischt. Ich folge dir!«, antwortete ich entschlossen, und dachte an das Kondom, das ich in meiner Tasche dabei hatte.
Wir schlichen uns in eine Frauentoilette im obersten Stock und sperrten uns in einer Kabine ein. Ich musste dringend pinkeln. Clarissa drehte sich um und schaute aus einem kleinen Fenster nach draußen, während ich das tat.
»Clarissa, willst du meinen Penis sehen?«
»Nein«, antwortete sie trocken, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden.
»Ok, schade. Dann lass uns zurück in den Unterricht.«, erwiderte ich und machte meinen Hosenstall zu. Wir schlichen uns wieder hinaus und gingen in unsere Klassen zurück. Ich war total verwirrt.
Beim Hineingehen in den Klassenraum schauten mich alle an, während meine Englischlehrerin mein Zuspätkommen notierte. Ich setzte mich neben André an einen der hintersten Tische, weil bei ihm gerade ein Platz frei war und der Sitzplan nicht immer eingehalten wurde. Es war zu weit weg von der Tafel, sodass ich wegen meiner Kurzsichtigkeit, die durch das viele am Computer Hocken entstand, außer dem wackelnden Po meiner Lehrerin, nichts erkennen konnte. Ich hatte zwar eine Brille in meiner Tasche, doch sie war mir zu peinlich für den Unterricht, weil sie wie eine Schutzbrille aus dem Chemieunterricht aussah. Deshalb kritzelte ich einfach gelangweilt Bildchen in mein Heft, was ich übrigens immer tat, wenn es im Unterricht zum Sterben langweilig war. Außerdem gab André flüsternd seine Sprüche ab, weil er wusste, dass er mich damit zum Lachen bringen würde. Es klappte wie immer, was dazu führte, dass mich die Lehrerin aus dem Klassenraum rausschmiss.
Vor dem Klassenraum dachte ich über mein Verhältnis zu Clarissa nach. Irgendwie war ich ein bisschen in sie verknallt. Außerdem hatte ich das Gefühl, sie würde mir eindeutige Signale schicken, dass sie auf mich stand.
2012. Eines Nachmittags beschloss ich, mein Glück bei Clarissa zu versuchen. Die meisten Schüler hatten schon längst Schluss und die leere Pausenhalle war von Stille durchzogen. Die wärmenden Sonnenstrahlen durchdrangen die großen Fenster der Halle, in der ich ganz aufgeregt darauf wartete, dass Clarissa in diesem Durchgang erschien. Je länger ich da stand, desto schneller schlug mein Herz. Der Schulgong erschreckte mich. Gleich musste sie kommen. Die ersten Schüler gingen an mir vorbei; wahrscheinlich nach Hause. Dann kam Clarissa.
»Hey, auf wen wartest du?«
»Eigentlich auf dich, ich wusste, dass du gleich Schluss hast«, erwiderte ich. »Ich habe da etwas für dich geschrieben«, führte ich fort.
Sie nahm den Brief in die Hand und wollte ihn öffnen.
»Warte! TOP SECRET! Öffne den besser zu Hause!«
»Na gut, ich muss auch schon los. Bis später.«, sagte Clarissa und schaute mich skeptisch an.
Diese Nacht konnte ich nicht einschlafen. Ich starrte im verdunkelten Zimmer an die Decke und dachte die ganze Zeit darüber nach, ob Clarissa schon den Brief mit meinem Liebesgeständnis gelesen hatte, und wenn ja, wie sie darauf reagiert hatte.
Am nächsten Tag in der Pause wartete ich auf sie auf der Bank und aß mein Pausenbrot. Als sie die Halle betrat, kam sie erst gar nicht zu mir; stattdessen stellte sie sich zu den anderen Nerds. Sie tat so, als würde sie mich gar nicht kennen. Ich erahnte schon, dass es nicht so ausgegangen war, wie ich es mir erhofft hatte. Als ich sie darauf ansprach, sagte sie nur, dass sie kein Interesse an einer Beziehung hatte.
Seit diesem Brief hing sie nur mit anderen Jungs ab. Sie begrüßte mich nicht mal mehr. Alexey war nicht immer da, deshalb verbrachte ich seitdem die Pausen meist allein, während links und rechts verschiedenste Schülergruppen, die Nerds, die Coolen und die Normalos über irgendetwas ununterbrochen redeten.
Ich verstand mich mit allen diesen Gruppen gut, aber es fühlte sich trotzdem irgendwie so an, als wäre ich mit niemandem so richtig auf einer Wellenlänge, sodass sich daraus vielleicht eine Freundschaft entwickeln könnte. Ich versuchte trotzdem, möglichst nicht als Außenseiter aufzufallen. Dazu setzte ich mich nicht zu weit von anderen weg, um insbesondere keine Blicke des durch die Pausenhalle streifenden Aufsichtslehrers auf mich zu ziehen.
Meist tat ich so, als würde ich in einem Buch lesen und deshalb keine Zeit fürs Quatschen haben. Dabei glotzte ich nur in das geöffnete Mathebuch hinein. In Gedanken war ich aber bei Clarissa, die einige Meter von mir entfernt mit anderen Jungs über etwas sprach und von Zeit zu Zeit lachte. Es kam mir so vor, als würde sie über mich lachen.
Manchmal, wenn ich möglichst unauffällig meinen Kopf anhob, um sie kurz anzuschauen, trafen sich mein und ihr Blick. Dann drehte ich blitzschnell mein Gesicht wieder ins Buch. Manchmal traf sich auch mein Blick mit dem Blick des Aufsichtslehrers. Wahrscheinlich fiel ihm mein Außenseitersein auf. Also ging ich am besten aus der Schule heraus und drehte eine Runde um den Block, bis die Pause vorbei war.
Beim Bummeln durch die Stadt blieb ich vor dem Schaufenster eines Pfeifenladens stehen. Die hölzernen Rauchpfeifen erinnerten mich an Albert Einstein, der auch immer eine Pfeife geraucht hatte. Ich entschloss mich, in den Laden hineinzugehen. Beim Öffnen der Tür verriet eine Glocke, dass ich den Laden betreten hatte. Niemand war an der Kasse. Es war leise und es roch nach irgendeinem aromatischen Tabak.
Plötzlich kam ein alter Mann hinter der Kasse hervor.
»Suchen Sie nach einer guten Pfeife?« In dem Moment dachte ich, wie cool es eigentlich wäre, eine Pfeife zu rauchen und sich dabei wie Einstein zu fühlen.
»Sind Sie noch da?«, fragte er mich nochmal nach, während ich in Gedanken vertieft war.
»Ja, ich möchte erstmal eine günstige Pfeife haben. Ich bin noch ein Anfänger, was das angeht«, brach es spontan aus mir heraus.
Er empfahl mir eine schwarze Pfeife für fünfzig Euro. Dazu Filter, Pfeifenreiniger und Tabak mit Kirscharoma. Es tat mir in dem Moment irgendwie leid um so viel Taschengeld, aber die Erfahrung war es mir dann doch wert. Außerdem häufte sich das Taschengeld bei mir eh an, weil ich nicht wusste, wofür ich es ausgeben sollte – außer mal für eine Milchschnitte oder ein Käsebrötchen.
Am nächsten Schultag ging ich, statt während der großen Pause in der Halle rumzusitzen, vor die Schule, wo sich über achtzehnjährige Schüler und ein paar Lehrer aufhielten und rauchten. Aus meinem Rucksack holte ich meine neue, bereits mit Tabak gefüllte Pfeife heraus und zündete sie an. Nach einigen Zügen entstand eine riesige weiße Wolke, wie bei einem Atompilz, um mich herum und stellte alle anderen Rauchwolken in den Schatten. Damit zog ich die ganze Aufmerksamkeit der Raucher auf mich. Für eine kurze Zeit stand ich plötzlich im Mittelpunkt. Das gefiel mir irgendwie.
»Das ist ja cool, darf ich auch mal ziehen?«, fragte mich ein nebenstehender Raucher.
»Klar.«
Es war immer ein Leichtes für mich, mit verrückten Tätigkeiten die Aufmerksamkeit von anderen zu erlangen, wenn ich das wollte. Aber gute Freundschaften oder eine Liebesbeziehung aufzubauen und diese aufrechtzuerhalten, das klappte nicht in Deutschland.
Zukünftige Learnings aus der Zeit in der 11. Klasse:
2012. Kurz vor dem Abschluss der elften Klasse, zog ich mit Mama, Schwester und Halbschwester im Frühling in ein benachbartes kleines Dorf namens Borsum. Trotz meiner Überzeugungsarbeit gelang es mir nicht, meine Mutter zu überreden, in die Stadt Hildesheim zu ziehen. Wenigstens war das neue Kaff nicht schlimmer als Lühnde...
Der Grund für den Umzug war ein Konflikt mit dem vorigen Vermieter, der wegen eines Unfalls mit der Spülmaschine entstand. Bei ihr war der Anschluss abgegangen und sie hatte dann die ganze Küche mit Wasser überflutet, was dazu führte, dass Schäden an der Wohnung entstanden waren, die zu einem gerichtlichen Prozess führten. Im Abstellraum breitete sich ein tiefschwarzer Schimmel aus, der immer wiederkam, obwohl wir ihn mit verschiedensten Mitteln zu entfernen versuchten. Niemand hätte es mir geglaubt, aber die Flecken erinnerten mich jedes Mal an kryptische Botschaften, deren Bedeutung ich nie entschlüsseln konnte.
Einige Tage vor diesem Zwischenfall hatten mich Schwester und ihre Freundin Antonia gefragt, wie man die Pikdame beschwört. Sie wollten nämlich auf unserem Hof zusammen mit Halbschwester in einem Zelt übernachten und dabei etwas Gruseliges erleben. Ich erinnerte mich noch ganz genau daran, wie es damals in Asow war und was wir taten, um die Pikdame in diese Welt zu holen. Ich erklärte ihnen, was sie alles dafür brauchten und warnte sie, dass sie die Zeichnung auf dem Spiegel sofort entfernen sollten, sobald sich jemand unbehaglich fühlte...
Mitten in der totenstillen Nacht durchdrang ein lauter Knall meine Träume, als die Eingangstür mit erschreckender Wucht zuschlug. Ich machte meine Augen weit auf ich vernahm dumpfe Hilferufe aus der Ferne, kaum hörbar und doch so beunruhigend: »Hilfeee, Hilfeee«. Mein Herz begann wild zu rasen, und ohne zu zögern sprang ich aus dem Bett und stürmte zur Eingangstür.
Vorsichtig presste ich mein Ohr an das Holz und erkannte mit Entsetzen, dass es die Stimmen meiner Schwestern waren, die nach Hilfe riefen. Ich schlüpfte hastig in die Latschen meiner Mutter und stürmte die Treppe hinunter auf den Hof. Das Licht der Laterne enthüllte, wie der Nachbar und meine Mutter versuchten, einen massiven Ast vom völlig verwüsteten Zelt zu entfernen.
Das Zelt, dem grausamen Spiel der Natur schutzlos ausgeliefert, war ein Trümmerfeld. Als ich entsetzt zur Baumkrone aufblickte, die drohend im Wind schwankte, spürte ich mit jeder Faser meines Körpers, dass sich dort oben jemand verbarg, doch seine Gestalt blieb im undurchdringlichen Dunkel verborgen. Die Kälte der Nacht drang bis in meine Knochen, und ich war wie gelähmt.
Erst als meine Mutter und der Nachbar meine leicht verletzten Schwestern befreiten, wagte ich mich wie erstarrt zurück in mein Zimmer ins Bett. In der unheimlichen Stille der Nacht hörte ich nur das Ticken der Uhr, die 2:15 Uhr anzeigte. Ich lag noch lange wach da, während meine Hand unwillkürlich auf meine Brust glitt, wo sich unter dem T-Shirt das Kreuz von Gogi befand. Es beschützte mich.
Einige Tage danach geschah der Unfall mit der Spülmaschine und dem schwarzen Schimmel im Abstellraum. Meine Mutter musste für die entstandenen Kosten aufkommen, dabei verdiente sie nicht gerade viel. Nachdem sie selbst erfolglos versucht hatte eine Nachhilfefirma für kleine Kinder zu gründen, begann sie als Altenpflegeassistentin zu arbeiten. Es war eine schwere Arbeit. Sie musste ständig für die erkrankten Mitarbeiter einspringen und an den Feiertagen arbeiten, auch an Weihnachten.
Wenn sie von der Arbeit zurückkam und eine Sache nicht da lag, wo sie hingehörte, dann verwandelte sich meine sehr temperamentvolle Mutter plötzlich in einen brüllenden Godzilla. Das war anstrengend zu ertragen, weshalb ich mir angewöhnte, in diesen Situationen schnell meine Sachen wegzuräumen, staubzusaugen und den Geschirrspüler auszuräumen, um sie wieder zu beruhigen.
Danach musste ich mich allerdings auch selbst erstmal wieder abreagieren – normalerweise mit lauter Musik und einer Pfeife. Disturbed, eine Band, die Alexey immer hörte, war perfekt um mich wieder in den ursprünglichen, ruhigen Zustand zu bringen. Wenn ich bereits traurig war, dann hörte ich eher die Musik aus Harry Potter, Herr der Ringe, Gothic oder World of Warcraft, während ich mich kurz ausheulte. Danach fühlte ich mich deutlich besser.
Ich war sehr nah am Wasser gebaut. Wenn wir Filme wie Romeo und Julia oder Das Leben ist schön im Unterricht schauten, war ich immer so gerührt, dass ich versuchen musste, meine Tränen zu unterdrücken. Ich fand es komisch, vor der ganzen Klasse zu heulen – insbesondere, weil ich zu denken gelernt hatte, dass ein Mann niemals weinen sollte.
Einmal klappte das Unterdrücken nicht und mir liefen unaufhörlich die Tränen beim Vorlesen eines Kriegsgedichts im Deutschunterricht. Vers für Vers sammelte sich in meinem Hals ein dicker Kloß an. Das Schlucken wurde immer schwerer und schwerer. Die Stimme fing an, zu brechen. Dann fielen die ersten Tränen auf den Zettel mit dem Gedicht. Als meine Emotionalität nicht mehr zu verdecken war und die anderen es bemerkt hatten, rannte ich ungefragt aus dem Klassenzimmer heraus und zur Toilette, um dort mein Gesicht zu waschen. Kurze Zeit später klopfte meine Deutschlehrerin an der Toilettentür.
»Alex, ist alles in Ordnung?«
»Ja, alles gut. Ich versetze mich manchmal nur zu sehr in die Geschichte.«
»Lass dir ruhig Zeit. Wenn du reden möchtest, sag Bescheid«, schlug sie vor und schien einige Sekunden später wieder weg zu sein.
2012. In den Sommerferien erstellte ich einen YouTube-Kanal, der als Ergänzung zu meiner Website dienen sollte. Ich tat mich schwer mit der Bezeichnung des Kanals, weil auf meiner Website praktisch alles Mögliche zu finden war - von Mathematik, über Politik, Lyrik, Philosophie und Tagebucheinträgen bis hin zu irgendwelchen erdachten physikalischen Experimenten. Es war sehr universell, weshalb mir dann als erstes die Bezeichnung Universalphilosoph einfiel. Nein, das passte nicht wirklich, es ging ja mehr als nur um Philosophie.
Dann dachte ich an Möchtegerngenie. Das klang bescheuert. Auch andere Ideen gefielen mir nicht. Schließlich kam mir der Einfall: »Universaldenker«. Es klang nicht allzu verrückt und repräsentierte gut meine Inhalte. Ohne zu zögern, änderte ich den Namen meiner Website passend zum YouTube-Kanal zu universaldenker.de.
Mit einer kleinen Kamera, die ich im Wohnzimmer in der Schublade gefunden hatte, drehte ich mein erstes Video, das meine Gedanken zu Rassismus enthielt. Mit einer später erworbenen besseren Videokamera, die ich von meinem Geburtstagsgeld kaufte, filmte ich mich beim Quatschen über den Sinn des Lebens, trug meine Gedichte oder die Lyrik Goethes vor.
In einem zugelegten Notizbuch sammelte ich meine Gedanken und Ideen. Einige davon, wie zum Beispiel Videos über den Begriff der Wahrheit, über die Funktionsweise der zwischenmenschlichen Kommunikation oder über die Entstehung des Wissens, arbeitete ich aus und veröffentlichte sie auf YouTube.
Die ersten Leute kommentierten die Videos. Die meisten der Kommentare waren nett. Einige machten sich über meinen Akzent lustig, was ich aber genauso witzig fand, wenn ich mir das Video selbst anhörte.
Die deprimierendsten Kommentare waren für mich die, die behaupteten, dass alles, was ich produziere für den Müll gedacht wäre und ich aufhören sollte, ihre und meine Zeit zu verschwenden. Ich nahm mir jeden Hasskommentar zu Herzen und fühlte mich dann tagelang deprimiert und unmotiviert, weil ich schließlich viel Arbeit in diese Videos steckte. Diese Menschen brachten mich dazu, die meisten Videos und Inhalte wieder zu löschen.
Um mich von den deprimierenden Gedanken zu lösen, rauchte ich meine Pfeife und lauschte dem Vogelgezwitscher auf dem Balkon. So konnte ich mich wieder beruhigen.
Nach einiger Zeit gewöhnte ich mich an die Hasskommentare. Ich kapierte, dass es eigentlich nur ein paar Menschen waren, denen es anscheinend Spaß machte, mich zu demütigen oder unsachlich zu kritisieren. Ich entschloss mich, jeden, der mich beleidigte, zu blockieren. Ich rief mir ins Gedächtnis, dass hinter den Hasskommentaren wahrscheinlich Menschen steckten, die private Probleme hatten und deshalb ihren Frust im Schutze der Anonymität an mir ausließen.
Jahr 2013. Als die Sommerferien vorbei waren, ging es in die zwölfte Klasse, die sogenannte Qualifikationsphase, in der ich mich zwischen Maschinenbau und Informatik natürlich für den informatischen Schwerpunkt entschied, weil ich Widerstände auf eine Platine zu löten und an den Computern rumzuschrauben interessanter fand als an Holz und Metall rumzusägen. Mein Interesse konnte man auch deutlich an meinen Noten erkennen. Informatik – gut und Physik – gut. Spanisch – gut. Spanisch war jedoch für totale Anfänger.
In Physik war ich gut, weil mir Alexey manchmal ein paar Sachen erklärte, aber auch mein Physiklehrer war fähig und nett. Doch erst in der zwölften Klasse, als ich einen neuen Physiklehrer bekam und die langweilige klassische Mechanik abgeschlossen war, fing mein Interesse an, sich von Informatik auf Physik zu verlagern.
Meine am Anfang des Schuljahres – eher aus reiner Glückssache erhaltenen – guten Noten und das darauffolgende unerwartete Lob meines neuen Physiklehrers, führten dazu, mich glauben zu lassen, ich hätte ein Talent für das Fach. Auch die Mitschüler und der Lehrer schienen dies zu denken. Es fühlte sich gut an, gelobt zu werden und in der Klasse mittlerweile als Physiker bezeichnet zu werden.
Auf einmal wurde Physik zu meinem Lieblingsfach, und das, obwohl ich Physik nie wirklich mochte! Das führte dazu, dass ich selbstständig aktiv wurde, um dieses Erfolgsgefühl aufrechtzuerhalten. Ich fing an, regelmäßig Physikhausaufgaben zu machen und im Unterricht immer geistig anwesend zu sein. Es war kaum zu glauben, aber ich war wirklich traurig, wenn der Physikunterricht ausfiel.
Es war erstaunlich festzustellen, welchen Einfluss mein Physiklehrer auf meine Zukunft hatte. Seine Anerkennung weckte in mir eine unendliche Motivation. Seine spannenden Ausführungen über Themen wie den quantenmechanischen Tunneleffekt führten dazu, dass ich in der zwölften Klasse beschloss, nach dem Abitur Physik zu studieren und so wie mein Lehrer, wenn nicht sogar noch besser, zu werden.
Es fand eine positive Transformation in mir statt, da ich endlich das Gefühl hatte, meinen Weg gefunden zu haben. Die Faszination für Physik war so groß, dass ich mir sogar zum Ziel setzte, eines Tages selbst einen Beitrag zu diesem Fach zu leisten und den Nobelpreis dafür zu erhalten.
Mein vorheriger Physiklehrer war gut und ich hatte gute Noten. Doch mein neuer Physiklehrer wurde zu einem Vorbild, das nicht nur über meine Noten, sondern auch über meine Zukunft entschied.
2013. Nachdem mich einige meiner Mitschüler baten, ihnen Physik zu erklären, kam ich auf den Gedanken, dies in Form eines YouTube-Videos zu tun. Und so entstand mein allererstes Physikvideo über den photoelektrischen Effekt von Albert Einstein. Meine Website bekam damit auch den Bereich für Physikthemen in Textform.
Natürlich bekam ich auch Hasskommentare unter meinem ersten Physikvideo. Sie sagten mir, dass ich kein Universaldenker, sondern entweder ein Selbstdarsteller, ein Wunschdenker oder sonst was war – aber auf gar keinen Fall ein Universaldenker. Und von der Physik sollte ich fernbleiben, weil ich davon eh nichts verstand und der Physiknobelpreis würde ich nur in einem Paralleluniversum bekommen.
Diese Menschen versuchten mir ihre negativen Klassifizierungen solange einzutrichtern, bis ich diese – auf dem Tablett serviert – angenommen hätte. Doch die gewonnene Leidenschaft für Physik hielt allen möglichen negativen Einflüssen stand, seien es Hasskommentare unter dem Physikvideo, E-Mails, die mir weismachen sollten, dass ich von Physik überhaupt keine Ahnung hätte, oder schlechtere Physiknoten.
All diese Ereignisse und Einflüsse brachten mich nicht mal ansatzweise dazu, mich von der Physik abzuwenden. Ich war wie ein begeistertes Kind und die Physik war mein neues Spielzeug, welches mir niemand wegnehmen konnte.
Ich war fest davon überzeugt, dass ich niemals das Kind in mir aufgeben durfte, wenn ich die Welt positiv voranbringen wollte; wenn ich alles in meinem Leben erreichen wollte, was ich mir vornahm. Ich war zu der Zeit überzeugt, dass ich genauso genial wie Albert Einstein sein könnte, genauso Physik begreifen könnte wie er. Ich durfte nur meine Leidenschaft nicht verlieren. Das war das wichtigste und nicht irgendwelche Schulnoten oder Meinungen der Kritiker.
Ich glaubte kaum, dass Albert Einstein Physik studierte, um gute Noten in diesem Fach zu bekommen oder Klausuren zu bestehen. Er interessierte sich für Physik, weil er wissen wollte, was unser Universum im Innersten zusammenhält. Er blieb in seinem Inneren immer ein neugieriges, begeistertes Kind, welches das damalige Verständnis von Physik revolutionierte - trotz vieler Kritiker. Wo stünde die Physik jetzt, wenn er nach der ersten Kritik seine Arbeit in diesem Bereich niedergelegt hätte?
2013. Im Laufe der Zeit erstellte ich weitere Physikvideos zu Themen, die wir in der Schule behandelten und half damit mittlerweile nicht nur meinen Klassenkameraden, sondern auch anderen Schülern. Sie schrieben mir, dass sie dank meiner Videos bessere Noten in Physik bekamen.
Für meine Arbeit verlangte ich natürlich keinen einzigen Cent von den Besuchern und Zuschauern, weil ich fest davon überzeugt war, dass das Wissen für jeden frei zugänglich sein müsste. Ich wusste nämlich selbst ganz genau, wie wertvoll es war, von anderen kostenlos im Internet lernen zu dürfen. Für einen Nachhilfelehrer hätte meine Mutter sowieso kein Geld gehabt. Die kostenlosen Wissensquellen waren deshalb umso hilfreicher. Und ich war sicher, dass es genügend andere Leute gab, die sich kostenpflichtige Angebote nicht leisten konnten oder nicht bereit waren, für Wissen Geld auszugeben. Frei verfügbares Wissen, glaube ich noch immer, verhindert eine Spaltung der Gesellschaft in Wissende und Nichtwissende.
Und in meinem Fall waren einige Schüler sogar so dankbar für die Videos, dass sie freiwillig spendeten. Auf diese Weise generierte ich zum ersten Mal mein passives Einkommen und konnte damit zumindest die Server- und Domainkosten der Website finanzieren.
Zukünftige Learnings aus der Zeit in der 12. und 13. Klasse: