25. Dezember 2024.
Handschriftliche Version [PDF]
Ich bin in die alte Wohnung durch die Nordstadt gegangen, um potentielle Briefe abzuholen. Unterwegs bin ich einer jungen Frau mit einer knallroten Mütze begegnet. Sie sah traurig aus. Das hat mich angezogen.
Später habe ich sie hundert Meter von mir entfernt in der Innenstadt gesehen. Für einen kurzen Moment dachte ich, dass Gott mir eine Lebenspartnerin geschickt hat.
Im Espresso House um halb zwölf ist es leer heute. Ich bin allein mit einem Mann hier, sitze am Tisch am Fenster und schreibe diese Zeilen.
Ich habe über das Leben im Auto gründlicher nachgedacht. Es ist nicht meine Bestimmung im Auto zu leben. Ich habe mich sehr von Youtubern, die im Van oder im Auto leben, beeinflussen lassen. Der 20. Oktober 2024 hat mich schließlich dazu gebracht, ohne Wohnung, im Van zu leben. Mein Minimalisierungsgedanke hat dann "Van" durch "Auto" ersetzt.
Das war ein Wunsch, der durch kurzfristige äußere Einflüsse gekommen ist. Ich sollte aber so leben, wie ich mir das Paradies auf Erden vorstelle. Es gibt dort keine eigenen Autos. Es gibt gar keine Autos dort und schon gar keine Verbrenner wie mein aktuelles Auto. Carsharing ist nur der Übergang zur autofreien Welt, bis alle Straßen und Autobahnen abgerissen werden und wo das Gras wieder wachsen kann. Im Grunde ist es immer noch die Vorstellung, die ich seit Jahren habe. Ich habe sie nur seit dem Gedanken einen Führerschein zu machen, wohl vergessen.
Doch wie stelle ich mir die Zukunft gerade vor? Dauerhaft bei Mama leben (auch wenn sie mir das erlaubt) werde ich nicht. Dafür ist erstens der gesellschaftliche Druck zu groß, so nach dem Motto: Du kannst doch nicht mit 32 Jahren bei Mama leben! Geh arbeiten, leb dein eigenes Leben. Diesen Druck spüre ich unterschwellig, wenn ich beispielsweise mit der Familie beim Frühstück über mein Leben rede.
Zweitens: Bei Mama zu Hause kann ich nicht persönlich wachsen oder zumindest nur bis zu eine gewissen Grad. Dabei ist Erfahrung zu sammeln, weise zu werden, etwas, das ich zum Lebenssinn dazu zähle.
Also was mache ich nach dem ich das Auto verkauft habe? Am 1. Januar melde ich den Wohnsitz ab. Wie ich dann weiter vorgehe, weiß ich noch nicht. Jedes Mal, wenn ich die Zukunft geplant habe, ist eh nichts daraus geworden. Es kommt stets anders als man erwartet - es sei denn man erzwingt eine bestimmte Zukunft. Dann lebt man nur ein Rollenspiel des Egos, das mir vorgegaukelt hat, wie ich zu leben habe, um glücklich zu sein. Doch das dauerhafte Glück wird nicht eintreten.
Ich lebe also vor mich hin und schaue, was das Leben in Zukunft mit sich bringen wird. Ich bin für alles offen. Das Einzige, was im Leben dauerhaft zufrieden macht, ist das Leben im gegenwärtigen Moment. Ohne sich Gedanken um die Vergangenheit oder Zukunft zu machen. Und das merke ich jetzt in diesem Moment. Ich bin traurig / nervös bei dem Gedanken über die schöne Frau, die sich mir gegenüber hingesetzt hat und ein Buch liest. Begebe ich mich aber in den gegenwärtigen Moment, tritt nach einer kurzen Zeitverzögerung innere Zufriedenheit ein.
Damit der gegenwärtige Moment noch schöner ist, habe ich mir einen veganen Blaubeerkuchen gegönnt. Übrigens: Ich werde nicht mehr das Wort "vegan" erwähnen. Alles was ich esse, ist vegan.
Als ich nach Hause gefahren bin, stand Mamas Auto da. Ich habe mich gefreut, dass sie zwei Stunden früher da ist.
Doch so wie ich gekommen bin, bin ich wieder gefahren - mit dem Auto. Ich konnte das Theater und die Vorwürfe nicht verkraften.
Die Stadt war jetzt voller Spaziergänger. Es dämmert bereits. Ich setze mich an der Kirche, an einem Ort, wo es kein Mensch weit und breit ist.
"Gott? Was soll ich tun?", frage ich leise.
Kurze Zeit später spüre ich, wie die Wut auf meine Mutter abnimmt.
Ich gehe weiter. Mutter ruft an. Ich ignoriere vorerst den Anruf.
Seit zwei Stunden laufe ich umher und beschließe das die nächsten Tage auch zu machen. Ganzen Tag irgendwo außerhalb von Zuhause zu verbringen, um mich an ein wohnungsloses Leben zu gewöhnen.
Unterwegs spricht mich ein Mann, wahrscheinlich so um die Mitte 40 an, den ich noch nie hier gesehen habe. Doch! Ich habe ihn vorhin, im Gehen, hastig aus der Nudelbox essen sehen.
"Hi, sprichst du Deutsch?", fragt er mich.
Ich bejahe seine Frage und komme mit Tommy ins Gespräch. Er ist wegen des Burnouts wohnungslos geworden.
Mir ist es egal, warum er wohnungslos ist. Wenn er mich um Hilfe bittet, dann braucht dieser Mensch Hilfe. Also helfe ich ihm, soweit ich kann. Ich kann zwar nicht wie Jesus Blinde sehend machen oder Tote auferstehen lassen, aber ich kann zumindest (versuchen) ein guter Vater für meine Kinder zu sein.
In der Hostentasche hatte ich noch 5 Euro da.
"Könntest du mir vielleicht einen 10er geben?", fragt er sehr lieb, wie ein kleines Kind, das seine Großeltern nach Taschengeld fragt.
Ich hatte kein Bargeld mehr da. Oh, doch. Ich habe ja noch eine Bargeldreserve im Rucksack für die Notfälle. Und es war ein Notfall.
"Wo übernachtest du eigentlich?", frage ich ihn neugierig.
Tommy bedankt sich und ist überrascht, dass ich nicht Nein gesagt habe.
Wir umarmen uns.
Er übernachtet, wenn er genug Geld gesammelt hat in einem Hostel für 25 Euro pro Nacht.
"Und was ist, wenn du nicht genug Geld für die Nacht hast?"
Dann ist er draußen. Aber er schläft nicht, sondern läuft so wie jetzt die ganze Nacht umher, um sich warm zu halten.
Der arme Mann. Er bekommt Burnout und landet auf der Straße. Und ich will freiwillig ein armes Leben führen?!
Mama ruft an. Ich gehe noch nicht ran. Sie tut mir irgendwie Leid. Die Wut auf sie hat sich in Mitleid verwandelt.
Ich gehe zurück zum Auto. Es ist schon dunkel.
Am Bahnhof läuft Aliv mit einem Lächeln und offenen Armen auf mich zu. Am kommenden Mittwoch bekommt er endlich seinen Ausweis.
Ich versöhne mich mit der Mutter.